Tote Mädchen lügen nicht
Tote Mädchen lügen nicht - oder tun sie es doch?
Dies ist eine persönliche Einschätzung der Serie mit Vergleichen aus meinem Leben.
Lange habe ich mich vor dem Hype um das Buch bzw die TV Serie
verschlossen. Wie konnte eine Serie über Suizid so sehr die Massen begeistern
und emotional an den Tiefpunkt bringen?
Obwohl ich ein Serienfreak bin, empfand ich keine Neugier
dieser Geschichte gegenüber. Ich wollte, nein ich musste nicht Erlebnisse als
Film sehen, die ich möglicherweise in irgendeiner Form mit der Protagonistin
hätte teilen können. Dann sah ich eines Tages ein junges Mädchen im Zug, das
besagtes Buch las. Sie hatte deutliche Spuren von Selbstverstümmelung an den
Armen und machte sich Notizen. Ich schnappte nur Bruchstücke auf, bevor sie den
Block beiseitelegte. „Selbstmord“ und „Abschiedsbrief“ standen ganz oben. Ich
sprach sie an, weil ich mich sorgte, doch wie sich herausstellte, hatte sie die
Unterstützung einer guten Freundin, die alles als Show abtat, als Betteln um
Aufmerksamkeit. Wie ich heute weiß, geht es dem Mädchen gut. Als wir uns
neulich wieder im Zug begegnet sind, meinte sie, sie hätte mit ihrer Geschichte
abgeschlossen und die Serie wäre der Grund dafür. All die Erinnerungen an eine
unschöne Schulzeit wären vorbei, sie hätte sie niedergeschrieben und wäre nun
bereit nach vorn zu schauen. Das brachte mich zum Nachdenken und ich wagte es
tatsächlich, einen Blick auf die erste Folge zu werfen. Ich ließ mich von
Hannah durch die Episoden geleiten, erfuhr wie ihr viel zu kurzes Leben in der
Serie ein Ende fand. Ich möchte nicht spoilern oder euch sonstige Details verraten.
Heute habe ich die Serie beendet und ich war für einige Stunden ein seelisches
Wrack. Ich habe viel nachgedacht, in den Nächten kaum geschlafen, weil mich
diese Geschichte so sehr beschäftigt hat.
Was wäre wenn… Man stellt sich immer wieder diese Fragen. Was
wäre wenn Mobbing an den Schulen unterbunden werden könnte? Was wenn Freunde
nie zu Feinden werden würden, was wenn…doch meistens handelt es sich dabei nur
um hypothetische Vorstellungen, die so fern von der Realität sind, dass man
seine Zweifel und Ängste in Tränen ersticken muss. Hannah hat alles versucht
und der letzte Ausweg war ihr Tod. Ihr findet das übertrieben? Ist es falsch,
dass ich die Protagonistin verstehen kann? Ich selbst wurde jahrelang auf
andere Weise gemobbt. Viele Menschen, Schüler sind sich nicht im Klaren, was
Mobbing mit ihren Mitmenschen machen kann. Nun ich werde es euch erzählen…
Bevor ich auf das Gymnasium kam, besaß ich Selbstbewusstsein,
war kreativ und habe mich getraut, Neues auszuprobieren. Dann begannen meine
Mitschüler meine Eigenarten anzuprangern. Ich war anders und wollte doch so
gern wie sie sein. Das hat mich zerstört. Ich hätte akzeptieren sollen, dass
ich normal war und sie es einfach nicht verstehen konnten. Jeder hat eine
andere Form der Normalität und man sollte so leben können, wie es einem
gefällt. Es führte sogar soweit, dass ich meine Hobbys und Träume aufgab, mich
einigelte, nicht mehr rausging und mich zurückzog. Ich war so verzweifelt auf
der Suche nach Freunden, das ich nach jedem Strohhalm griff. Ich habe den
Falschen vertraut und gedacht, dass Geschenke oder Aufopferung mir helfen
würden, endlich dazuzugehören. Stattdessen erkaufte ich mir einen Platz in der
Mitte eines Kreises, wo alle umstehenden Leute mit Beschimpfungen nach mir
warfen. Worte können zerstörerischer sein als körperliche Gewalt. Hannah sagte
in der Serie: „Ihr habt meine Seele gebrochen.“ Das war der Moment, wo ich
meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Ich habe geweint und mich erinnert.
An all die Dinge, die so unbedeutend schienen, für die ich mich geschämt habe.
Fehler, die ich nie begangen hatte, gestand ich mir jahrelang ein. Ich suchte
die Schuld bei mir, glaubte eine solche Behandlung verdient zu haben. Ich habe
mich versteckt und abgewartet, doch heute weiß ich, dass Karma schlägt nicht
zurück. Die Menschen, die mich gefühlsmäßig verletzt haben, werden immer einen
Teil von meinem Leben ausmachen. Einen schmerzvollen, der mich geprägt hat. Ich
hasse sie für das, was sie getan haben, für die Art wie sie weggeschaut oder
Beifall geklatscht haben. Ich hasse sie, dass sie nicht akzeptieren konnten,
dass ich anders war. Und ich hasse mich selbst, dass ich nie den Mut hatte, auf
den Tisch zu schlagen und für mich selbst einzustehen.
Wenn ich heute alte Lehrer meiner Schule sehe, oder
Klassenkameraden von damals, kommen die Erinnerungen hoch. Meistens schlucke
ich sie hinab, lächle so selbstbewusst wie es mir möglich ist und ignoriere
diese Menschen. Von geheuchelten Gesprächen halte ich nichts, weshalb kein
Kontakt mehr zu diesen Leuten besteht. Ich lege selbst keinen Wert darauf. Mein
Leben hat sich durch einen Traum gewandelt, für den man mich in der 11. Klasse
verspottete: das Schreiben. Auch Hannah versuchte durch Poesie ihre Gefühle
auszudrücken. Für sie endete diese Leidenschaft in Tränen, für mich war sie ein
Neubeginn. Ich fand einen Lebensinhalt, hatte wieder Ziele vor Augen. Als die
ersten Erfolge und Veröffentlichungen kamen, erloschen die Stimmen meiner
Klassenkameraden. Aus Träumen wurde mehr und ich bin unendlich dankbar, in dem
Schreiben einen Anker für ein wundervolles Leben gefunden zu haben. Ich hatte
nie Selbstmordgedanken wie Hannah Backer, aber wer weiß was geschehen wäre,
hätte ich noch ein paar Jahre mehr an der Schule verbringen müssen.
Wieso ich euch einen so langen und intimen Text schreibe? Um
euch wachzurütteln. Jedes Wort, das euch über die Lippen kommt und nicht die
Welt bedeutet, könnte eine andere erschüttern. Es könnte eine Seele zu Fall
bringen, jemanden in Tränen ausbrechen lassen, jemanden töten. Klärt eure
Kinder auf, behandelt das Thema. Noch heute sehe ich auf der Straße oder an
Bushaltestellen Gewalt und Mobbing. Ich versuche einzugreifen, weiß aber, dass
es den Opfern nur für einen kurzen Moment hilft, bevor der Stress am nächsten
Tag weitergeht. Ihr zerstört Leben. Ihr seid Täter! Nehmt euch diese Serie und
betrachtet die möglichen Folgen, die solche Handlungen auch für euer Leben haben
könnten. Erzieht eure Kinder nicht zu Mitläufern oder Tätern, sondern zu
Beschützern, zu guten Menschen. Davon gibt es auf der Welt zu wenige und wenn
ich mir unsere politische Situation oder allgemein die Kriege ansehe, finde
ich, dass wir mehr Leute gebrauchen könnten, die das Herz an der rechten Stelle
tragen. Ich danke euch, für eure Aufmerksamkeit.