Tote Mädchen lügen nicht

Juni 02, 2017 Marie-Luis Rönisch 0 Comments

Tote Mädchen lügen nicht - oder tun sie es doch?

Dies ist eine persönliche Einschätzung der Serie mit Vergleichen aus meinem Leben.

Lange habe ich mich vor dem Hype um das Buch bzw die TV Serie verschlossen. Wie konnte eine Serie über Suizid so sehr die Massen begeistern und emotional an den Tiefpunkt bringen?
Obwohl ich ein Serienfreak bin, empfand ich keine Neugier dieser Geschichte gegenüber. Ich wollte, nein ich musste nicht Erlebnisse als Film sehen, die ich möglicherweise in irgendeiner Form mit der Protagonistin hätte teilen können. Dann sah ich eines Tages ein junges Mädchen im Zug, das besagtes Buch las. Sie hatte deutliche Spuren von Selbstverstümmelung an den Armen und machte sich Notizen. Ich schnappte nur Bruchstücke auf, bevor sie den Block beiseitelegte. „Selbstmord“ und „Abschiedsbrief“ standen ganz oben. Ich sprach sie an, weil ich mich sorgte, doch wie sich herausstellte, hatte sie die Unterstützung einer guten Freundin, die alles als Show abtat, als Betteln um Aufmerksamkeit. Wie ich heute weiß, geht es dem Mädchen gut. Als wir uns neulich wieder im Zug begegnet sind, meinte sie, sie hätte mit ihrer Geschichte abgeschlossen und die Serie wäre der Grund dafür. All die Erinnerungen an eine unschöne Schulzeit wären vorbei, sie hätte sie niedergeschrieben und wäre nun bereit nach vorn zu schauen. Das brachte mich zum Nachdenken und ich wagte es tatsächlich, einen Blick auf die erste Folge zu werfen. Ich ließ mich von Hannah durch die Episoden geleiten, erfuhr wie ihr viel zu kurzes Leben in der Serie ein Ende fand. Ich möchte nicht spoilern oder euch sonstige Details verraten. Heute habe ich die Serie beendet und ich war für einige Stunden ein seelisches Wrack. Ich habe viel nachgedacht, in den Nächten kaum geschlafen, weil mich diese Geschichte so sehr beschäftigt hat.
Was wäre wenn… Man stellt sich immer wieder diese Fragen. Was wäre wenn Mobbing an den Schulen unterbunden werden könnte? Was wenn Freunde nie zu Feinden werden würden, was wenn…doch meistens handelt es sich dabei nur um hypothetische Vorstellungen, die so fern von der Realität sind, dass man seine Zweifel und Ängste in Tränen ersticken muss. Hannah hat alles versucht und der letzte Ausweg war ihr Tod. Ihr findet das übertrieben? Ist es falsch, dass ich die Protagonistin verstehen kann? Ich selbst wurde jahrelang auf andere Weise gemobbt. Viele Menschen, Schüler sind sich nicht im Klaren, was Mobbing mit ihren Mitmenschen machen kann. Nun ich werde es euch erzählen…
Bevor ich auf das Gymnasium kam, besaß ich Selbstbewusstsein, war kreativ und habe mich getraut, Neues auszuprobieren. Dann begannen meine Mitschüler meine Eigenarten anzuprangern. Ich war anders und wollte doch so gern wie sie sein. Das hat mich zerstört. Ich hätte akzeptieren sollen, dass ich normal war und sie es einfach nicht verstehen konnten. Jeder hat eine andere Form der Normalität und man sollte so leben können, wie es einem gefällt. Es führte sogar soweit, dass ich meine Hobbys und Träume aufgab, mich einigelte, nicht mehr rausging und mich zurückzog. Ich war so verzweifelt auf der Suche nach Freunden, das ich nach jedem Strohhalm griff. Ich habe den Falschen vertraut und gedacht, dass Geschenke oder Aufopferung mir helfen würden, endlich dazuzugehören. Stattdessen erkaufte ich mir einen Platz in der Mitte eines Kreises, wo alle umstehenden Leute mit Beschimpfungen nach mir warfen. Worte können zerstörerischer sein als körperliche Gewalt. Hannah sagte in der Serie: „Ihr habt meine Seele gebrochen.“ Das war der Moment, wo ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Ich habe geweint und mich erinnert. An all die Dinge, die so unbedeutend schienen, für die ich mich geschämt habe. Fehler, die ich nie begangen hatte, gestand ich mir jahrelang ein. Ich suchte die Schuld bei mir, glaubte eine solche Behandlung verdient zu haben. Ich habe mich versteckt und abgewartet, doch heute weiß ich, dass Karma schlägt nicht zurück. Die Menschen, die mich gefühlsmäßig verletzt haben, werden immer einen Teil von meinem Leben ausmachen. Einen schmerzvollen, der mich geprägt hat. Ich hasse sie für das, was sie getan haben, für die Art wie sie weggeschaut oder Beifall geklatscht haben. Ich hasse sie, dass sie nicht akzeptieren konnten, dass ich anders war. Und ich hasse mich selbst, dass ich nie den Mut hatte, auf den Tisch zu schlagen und für mich selbst einzustehen.
Wenn ich heute alte Lehrer meiner Schule sehe, oder Klassenkameraden von damals, kommen die Erinnerungen hoch. Meistens schlucke ich sie hinab, lächle so selbstbewusst wie es mir möglich ist und ignoriere diese Menschen. Von geheuchelten Gesprächen halte ich nichts, weshalb kein Kontakt mehr zu diesen Leuten besteht. Ich lege selbst keinen Wert darauf. Mein Leben hat sich durch einen Traum gewandelt, für den man mich in der 11. Klasse verspottete: das Schreiben. Auch Hannah versuchte durch Poesie ihre Gefühle auszudrücken. Für sie endete diese Leidenschaft in Tränen, für mich war sie ein Neubeginn. Ich fand einen Lebensinhalt, hatte wieder Ziele vor Augen. Als die ersten Erfolge und Veröffentlichungen kamen, erloschen die Stimmen meiner Klassenkameraden. Aus Träumen wurde mehr und ich bin unendlich dankbar, in dem Schreiben einen Anker für ein wundervolles Leben gefunden zu haben. Ich hatte nie Selbstmordgedanken wie Hannah Backer, aber wer weiß was geschehen wäre, hätte ich noch ein paar Jahre mehr an der Schule verbringen müssen.
Wieso ich euch einen so langen und intimen Text schreibe? Um euch wachzurütteln. Jedes Wort, das euch über die Lippen kommt und nicht die Welt bedeutet, könnte eine andere erschüttern. Es könnte eine Seele zu Fall bringen, jemanden in Tränen ausbrechen lassen, jemanden töten. Klärt eure Kinder auf, behandelt das Thema. Noch heute sehe ich auf der Straße oder an Bushaltestellen Gewalt und Mobbing. Ich versuche einzugreifen, weiß aber, dass es den Opfern nur für einen kurzen Moment hilft, bevor der Stress am nächsten Tag weitergeht. Ihr zerstört Leben. Ihr seid Täter! Nehmt euch diese Serie und betrachtet die möglichen Folgen, die solche Handlungen auch für euer Leben haben könnten. Erzieht eure Kinder nicht zu Mitläufern oder Tätern, sondern zu Beschützern, zu guten Menschen. Davon gibt es auf der Welt zu wenige und wenn ich mir unsere politische Situation oder allgemein die Kriege ansehe, finde ich, dass wir mehr Leute gebrauchen könnten, die das Herz an der rechten Stelle tragen. Ich danke euch, für eure Aufmerksamkeit. 

Mein Motto: Man kann niemals genug Bücher besitzen.